Das langsame Aushungern

- Der Bund kennt beim Thema Pflanzenschutzmittel nur eine Richtung: Verschärfung. Er hat in den letzten vier Jahren zahlreiche Massnahmen ergriffen, die eine massive Reduktion der zugelassenen Stoffe zur Folge hatten. Zeit für einen Rückblick.

Das langsame Aushungern

von Jimmy Mariéthoz, Direktor Schweizer Obstverband

Seit den Abstimmungen zu den extremen Agrar-Initiativen im Juni 2021 ist das Medieninteresse am Thema Pflanzenschutzmittel stark abgeflacht. Fernab der Titelseiten liessen derweil zwei Entscheide in jüngster Vergangenheit aufhorchen. Am 11. Oktober entschied die Wirtschaftskommission des Ständerates (WAK-S), am Beschwerderecht der Umweltverbände bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln (PSM) festzuhalten. Drei Tage später verkündete das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV), zahlreiche Verordnungen im Lebensmittelrecht anzupassen. So wurden mehr als 5000 Höchstwerte für Rückstände von PSM angepasst und mit jenen der EU harmonisiert. «In den meisten Fällen bedeutet dies eine Senkung der heute gültigen Höchstwerte», so das BLV. Die beiden Entscheide lassen tief in die Agenda des Bundes blicken.

Ein klares Ziel
Vor diesem Hintergrund kann ich mich dem Eindruck nicht verwehren, dass Politik und Verwaltung ziemlich unverblümt die Agenda der Umweltverbände verfolgen und synthetische PSM komplett verbieten wollen – unabhängig vom Risikopotenzial einzelner Wirkstoffe. Am Willen der Schweizer Bevölkerung entspricht diese Haltung nicht. Die Agrar-Initiativen scheiterten bekanntlicherweise mit einem wuchtigen Nein-Anteil von 60 Prozent. Dennoch können wir auf immer weniger Mittel zugreifen. Was heisst das in Zahlen? Zwischen dem 1. Januar 2016 und dem 1. Juli 2021 wurden 67 Wirkstoffe aus der Pflanzenschutzmittelverordnung gestrichen und 511 Produkten die Bewilligung entzogen. Gleichzeitig wurden lediglich 28 neue Stoffe aufgenommen und 252 neue Produkte zugelassen. Seither ist die Zulassung praktisch blockiert. Gemäss scienceindustries sind 2019 und 2020 bloss 3 neue Stoffe und 50 neue Produkte zugelassen worden, 2021 kaum noch weitere hinzugekommen.

Liegt es an den Umweltverbänden?
Zufälligerweise ist die Anzahl der Neuzulassungen auffällig zurückgegangen, seitdem das Bundesgericht 2018 den Umweltverbänden ein Beschwerdereicht eingeräumt hat. Die Schuld einseitig den Umweltverbänden zuzuschreiben, wäre aber falsch. Natürlich machen Umweltverbände Gebrauch vom Beschwerderecht und verhindern oder verzögern die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln. Ist das aber nicht genau ihre Rolle und darum legitim? Klar ist, dass sich diese seit jeher für die Interessen der Umwelt einsetzen und es nicht als ihre Kernaufgabe ansehen, die produzierende Landwirtschaft zu fördern. Damit kann ich leben. Was mich stört ist allerdings die Unausgewogenheit, mit der das Thema Pflanzenschutz aktuell in Bundesbern behandelt wird. Statt die Vorteile für die Produktion mit den Risiken für die Umwelt sorgfältig miteinander abzuwägen, wurde die Zulassung neuer Mittel mit verschiedensten Entscheiden durch die Hintertüre massiv erschwert.

 

«Könnte es sein, dass dieser Personalengpass absichtlich in Kauf genommen wird? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.» 

Jimmy Mariéthoz
Direktor Schweizer Obstverband

Haben Umweltverbände und Verwaltung zu viel Einfluss?
Die Liste hierfür ist lang und beginnt 2018 mit dem Entscheid des Bundesgerichtes, den Umweltverbänden ein Mitspracherecht bei der Zulassung zu gewähren. Im November 2020 folgte der Nachvollzug mit der EU: Seither entzieht die Schweiz automatisch PSM die Bewilligung, die in der EU nicht mehr zugelassen sind. Im Februar 2021 schliesslich transferierte der Bundesrat die Zulassungsstelle für Pflanzenschutzmittel vom Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) zum Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV). Ebenso stärkte er die Rolle des Bundesamts für Umwelt (BAFU). Die Folgen sind prekär: der Schutz der Kulturen ist nicht mehr gewährleistet und dringend notwendige Neuzulassungen lassen auf sich warten. So waren Mitte des letzten Jahres 391 Fälle bei der Zulassungsstelle pendent, heute sind es deren 700.

Fehlt es an Personal?
Eine Erklärung für diese Warterei liefern ausgerechnet die Umweltverbände. Offenbar vom eigenen Erfolg überrascht erklärten sie, dass sie seit 2018 nur in zwei Fällen eine Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht eingereicht hätten. Den wahren Grund für die grosse Zahl offener Zulassungsgesuche verordnen sie bei der personellen Unterdotierung der zuständigen Behörden. Offenbar gibt es trotz massivem Personalwachstum beim Bund zu wenig Personen, welche die Zulassungsunterlagen prüfen. Dass tatsächlich Ressourcenprobleme existieren, betonte auch Ständerat Peter Hegglin in der Diskussion zur AP22+ in der letzten Session. Dieses Problem dürfte eigentlich angesichts der Wichtigkeit schnell gelöst sein. Könnte es sein, dass dieser Personalengpass absichtlich in Kauf genommen wird?

Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

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